Interview in Loslassen – Der Trauerratgeber

„Alles in allem ist es ein Traumberuf“

Gunter Mehler ist als Trauerredner in München und dem Umland tätig. Wie er zu diesem ungewöhnlichen Beruf kam und wie an seine Aufgaben herangeht, schildert er Loslassen im Gespräch.

 

Herr Mehler, wie sind sie dazu gekommen, sich mit dem Tod auseinanderzusetzen?

Gunter Mehler: „Das begann bei mir schon recht früh. Als ich vier Jahre alt war, starb meine Großmutter. Sie lebte in der Nähe von Hannover – meine Eltern und ich in München. Mir kam es als Kind ganz komisch vor, dass man so etwas Einschneidendes nicht einfach merkt, sondern dass wir es erst durch einen Telefonanruf erfahren haben.
Während meines Abiturs verstarb dann mein Vater. Für mich entwickelte sich die Zeit zu einem doppelten Umbruch: die Schule beendet und den Vater verloren. Ich hatte mich also komplett neu zu finden. Es war also nicht nur der Schmerz über den Verlust, sondern auch das Zurückgeworfensein auf die eigene Person. Wie ich heute weiß, machen viele Trauernde eine ähnliche Erfahrung: Nicht nur der Schmerz ändert das Leben, sondern auch, dass neue Wege gefunden werden müssen, da nun eben der gewohnte Partner auf dem Weg fehlt.

Ich hatte schon während der Schulzeit den Wunsch evangelische Theologie zu studieren. Aber in dieser Phase erschien es mir nicht passend – und so habe ich dann erst nach eineinhalb Jahren den Wunsch weiterverfolgt. Im Studium hat mich dann einerseits die Lehre von den Letzten Dingen, also das, was der christliche Glaube über Sterben und Tod aussagt, interessiert, aber andererseits auch die praktische Theologie, eben auch mit dem Schwerpunkt Trauerfeiern.
Mich hat also das Thema Tod nicht wirklich losgelassen.“

Nach dem Studium haben Sie aber einen ganz anderen Weg eingeschlagen.

Mehler: „Ja, das ist richtig. Nach dem Examen erkannte ich immer mehr, dass ein Leben in der Kirche für mich nicht stimmig wäre. Und so arbeitete ich lange Jahre in einem Verlag und stand also mitten im Leben.
Im Freundes- und Familienkreis wurde ich aber immer wieder gefragt, ob ich denn nicht auch bei Trauerfeiern mitwirken könne.“

Aber das muss doch ganz eigentümlich gewesen sein!

Mehler: „Es ist wirklich etwas ganz Eigenes so nah an einem Sarg oder einer Urne zu stehen, umgeben von Kränzen und Blumen. Und dabei dann auch noch in die dunkelgekleidete Menge der Trauergäste zu sehen.
Aber es geschah etwas ganz Unerwartetes: Ich fühlte immer intensiver, dass das mein Platz im Leben ist.
Kommunikation ist ja mehr als nur Worte zu sprechen, sondern eben auch die Ausstrahlung. Und das merkten die Trauergäste, das ich mich wohlfühle und auch, dass ich der Situation entsprechend Ernsthaftigkeit vermittle – ohne aber in Rührseligkeit abzugleiten. Und vor allem, dass ich stark genug bin, die aufgewühlten Gefühle der Trauergäste in ruhigere Bahnen zu lenken, um dann in der doch kühlen Aussegnungshalle oder am Grab Wärme und Zuwendung entstehen zu lassen.“

Wie gehen Sie vor, um eine Trauerfeier zu gestalten?

Mehler: „Lassen Sie mich bitte vorab noch etwas Grundsätzliches sagen. Ich habe das Glück, dass ich neben der Ausstrahlung während der Feier noch eine weitere Gabe erhalten habe: Empathie. Ich kann sehr gut zuhören, verstehen und reflektieren – sodass ich tatsächlich Zugang zu den Angehörigen (und somit in gewisser Weise auch zu dem Verstorbenen) erlange.

Wichtig ist natürlich an Informationen über den Verstorbenen zu gelangen. Dabei geht es nicht darum, einen Lebenslauf mit exakten Daten zu erhalten. Sondern mir ist daran gelegen, zu erfahren, wie alt war der Angehörige als Wesentliches erreicht wurden, sodass ich daraus einen Weg des Lebens rekonstruieren kann.
Ferner besprechen wird dann besondere Fähigkeiten, Interessen und Hobbys. Und ganz wichtig: Wie lebte der Verstorbene mit seinen Mitmenschen? War er mehr gesellig oder eher zurückhaltend, lebenslustig oder melancholisch.
Aus all den vielen, verschiedenen Informationen kann ich mir dann ein Bild machen, wie der Verstorbene in den Augen seiner nächsten Angehörigen gelebt hat. Natürlich bekomme ich nur die Sichtweise der engen Bezugspersonen zu hören, aber ich erlaube mir dann auch Fragen zu stellen, die mir einen größeren Blickwinkel auf die Person ermöglichen, als ich ihn dann in der Ansprache verwende.
Ich mache mir mein Bild von dem Verstorbenen – aber ich urteile nicht. Das ist nicht meine Aufgabe.“

Die Rede muss dann geschrieben werden.

Mehler: „Idealerweise kann das Gehörte eine Nacht lang in meinem Hinterkopf rumoren. Dann geht es am nächsten Tag daran, die Notizen des Gesprächs zu reflektieren. Meist erhalte ich so viele Informationen, dass ich gar nicht alle verwenden kann – deswegen geht es darum, den Schwerpunkt zu finden und die Lebensgeschichte nach Themen zu gliedern. Chronologie ist nicht mein Ziel – mir geht es darum ein Bild zu malen, das die wichtigen Nuancen und Schattierungen des Verstorbenen vergegenwärtigt.
Ist der rote Faden gefunden, kann ich daran gehen, Zitate, Sprichwörter, Geschichte, Gedichte oder Musik darum zu gruppieren. Sodass das Leben des Verstorbenen immer wieder von verschiedenen Perspektiven beleuchtet wird und dadurch ein Gesamtbild entsteht.
Am Morgen vor der Feier überarbeite ich die Rede. Es gibt dann den letzten Feinschliff und sie ist dann aus einem Guss.“

Wie merken Sie, ob Ihre Rede den Erwartungen entspricht.

Mehler: „Ich halte während der Rede Blickkontakt – nicht, dass ich eine einzelne Person ständig betrachte, sondern ich blicke in das Rund der Gäste und kann an den Reaktionen ablesen, ob meine Worte ankommen.
Bei dem Vorgespräch werde ich immer wieder ungläubig angeschaut, wenn ich nach Marotten, Eigenheiten und vielleicht auch nach Schwächen des Verstorbenen frage.“So etwas auf einer Trauerfeier?“ – Ich erzähle dann immer von einer eitlen fast 90 jährigen Dame, die ihre Tochter kreuz und quer durch die Stadt geschickt hat, dass sie ihr einen Regenschirm kauft, den sie als Gehstock benutzen kann. „Es soll doch niemand sehen, dass ich ‚so etwas‘ jetzt schon brauche!“
Diese Marotte ist mir ganz wichtig, denn ich möchte, dass die engsten Angehörigen während der Feier einmal die Lippen nach oben zu einem Lächeln bewegen. Zum einen weiß ich dann, dass meine Worte sie erreichen – und zum anderen, und viel wichtiger: Die Angehörigen erinnern sich jetzt, während der Trauerfeier, auch an die schönen Momente, die sie gemeinsam erlebt und genossen haben. Dass der Tod wehtut, kann ich nicht ändern, aber ich kann eine Brücke bauen; hin zu den Erinnerungen und Gefühlen, die das gemeinsame Leben bestimmten.“

Das klingt fast so, als hätten Sie Freude bei einer Trauerfeier?

Mehler: „Es scheint, als wäre das der schwierigste Punkt meiner Arbeit! Wie kann ich erklären, dass ich in der Tat Freude empfinde, als Freier Theologe Trauerfeiern zu gestalten?
Vieles von dem, was erstmal keinen Bezug zu traurigen Gefühlen hat, macht mir Freude und ist leicht zu erklären! Meine Neugier auf Menschen – jeder Mensch hat eine große Geschichte, die es zu entdecken gilt. Das Schreiben hat mir schon von jeher Spaß gemacht. Das Interesse an Literatur und Musik kann ich auch einbringen. Also alles in allem ein Traumberuf!
Zu den traurigeren Aspekten: Ich habe ja Theologie studiert mit dem Ziel, um für Menschen „da zu sein“. Bei einer Trauerfeier begleite ich die engsten Angehörigen an einem überaus wichtigen Punkt ihres Lebens; denn ihr Leben wird nach dieser Feier ein anderes sein. Meine Aufgabe sehe ich dann die schon genannte Brücke zu bauen, die Verbindung zwischen Vergangenem und Künftigen. Und dass nicht nur der Schmerz mitgenommen wird, sondern eben auch die Erinnerung an das Vergangene und Schöne.
Und diese Erinnerung selbst ist nicht als etwas Abgeschlossenes anzusehen, sondern als etwas, was mich auch in der Zukunft weitertragen kann.
Um auf den Anfang zurückzukommen: Mein Vater ist jetzt fast 30 Jahre tot, aber das, was er mir beigebracht und mitgegeben hat, wirkt auch noch heute. Und ich kann heute daran denken und mich dafür bedanken.“


Das Interview führte Thomas Multhaup.
Loslassen – Beilage des Münchner Merkur, 01.03.2011